Post-Digitale Illusionen ohne Objekte
Klaus Speidel
„Das ist die Natur selbst. Die Gegenstände treten aus der Leinwand hervor und haben eine Wahrheit, die die Augen täuscht […]. Man versteht diese Magie überhaupt nicht. Da sind dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten, deren Effekt von unten nach oben durchdringt. In anderen Fällen möchten wir behaupten, ein feiner Dunst sei auf die Leinwand gehaucht, und wieder ein anderes Mal, ein leichter Schaum sei darüber gespritzt. […]. Treten Sie näher: alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfernen Sie sich: alles erschafft und erzeugt sich wieder neu.“ (Denis Diderot, aus dem „Salon von 1763“)
Vollkommen anachronistisch am Anfang dieses Aufsatzes platziert bezieht sich Denis Diderots Zitat von 1763 eigentlich auf die figurative Stilleben-Malerei des französischen Salonmalers Jean-Baptiste Siméon Chardin. Eigentlich. Denn soweit Diderot auch historisch von Christian Awes Arbeit entfernt ist, so nah kommt seine Beschreibung ihr doch der Sache nach. Wie im Werk Chardins fasziniert in Awes Arbeiten nicht zuletzt die Spannung zwischen Malerei und Bild. Wie Chardin ist auch Awe ein Künstler, bei dem Farbe, Form und Pinselstrich ihre Eigenwerte behalten – und dennoch ein Illusionist. Farbe Farbe sein lassen und gleichzeitig täuschen, das ist ein Paradox, das nicht nur das 18. Jahrhundert interessiert. Der Vergleich von Christian Awe mit Jackson Pollock ist zumindest in dieser Hinsicht irreführend, auch wenn er sich nicht zu unrecht aufdrängt. Denn die Striche, Spritzer und der Farbfluss des amerikanischen Malers sind relativ unvermittelt und damit jenseits jeder Illusion lesbar. Pollocks Drippings sind Spuren. Nicht-abbildend verweistein Werk Pollocks dennoch indexikalisch auf seinen Entstehungsprozess und macht ihn nachvollziehbar. Wie ein Tatort verweist es indizienhaft auf die Ereignisse seiner eigenen Entstehung. Damit wird es nicht nur selbstreflexiv, sondern zeichenhaft erzählend, insofern nämlich Narration per definionem Darstellung von Handlungen und Ereignissen ist.
Harold Rosenberg, der Erfinder des Ausdrucks „Action Painting“ formuliert es 1952 besonders pointiert: „Was auf der Leinwand passiert ist kein Bild sondern ein Ereignis“ (H. Rosenberg, „American Action Painters“, 1952). Die Leinwand wird dem Action Painter zu „einer Arena“, in der der Maler nicht darstellt, sondern handelt.Der Künstler wird zum Gladiator, der in die Arena steigt. Das Werk ist das was vom Kampfe übrigbleibt. Mit Spritzern übersäht könnte auch manches Werk Awes solch martialische Assoziationen wecken. Aber der erste Eindruck täuscht. Während auch seine Leinwände Spuren tragen, die auf eine Reihe Handlungen schließen lassen, ist es viel schwerer, sie direkt indexikalisch zu lesen. Man glaubt zu verstehen, wie die Schichten aufeinander folgen, aber durch subtiles Schichten und Ablösen wird in Wirklichkeit ein Ablesen der schöpferischen Handlungen aus dem Werk fast unmöglich. Oft wirkt auf den ersten Blick wie ein spontaner Spritzer, was der realen Handlung nach ein langsames Abtragen ist. Awes Arbeit stellt so nicht nur die Engführung von empfundener Schnelligkeit im Ausdruck und realer Schnelligkeit im Schaffensprozess infrage, sondern schafft in diesem Zusammenhang weitere Paradoxien. So spricht Gabriele Uelsberg in Bezug auf seine Arbeit von einer „Konstruktion des Informellen“ und legt eine Ähnlichkeit mit Renaissance-Malerei nahe. Tatsächlich könnte man Awes Arbeit mit der Sprezzatura in Zusammenhang bringen, die nach dem italienische Renaissance-Theoretiker Baldassare Castiglione zum künstlerischen Prinzip par excellence avanciert. Und die Sprezzatura ist die gekonnte Simulation von Spontaneität, die Fähigkeit „es so aussehen zu lassen, als sei das, was man geschaffen hat, ohne Schwierigkeit und fast ohne Nachdenken entstanden“ (B. Castiglione, Il Cortegiano, 1528) – während in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall sein mag (und vermutlich sein sollte). Während visuell der Unterschied groß ist zwischen italienischer Malerei der Renaissance und Awes abstrakten Kompositionen, ist der Weg bei beiden ähnlich: es geht um Kunst, die die Kunst verbirgt.
Wie die Werke der Renaissance gehen Awes Arbeiten auf den Betrachter zu, wollen ihn, wie der Maler selbst sagt, „in Staunen versetzen“. Unmittelbarkeit und totale Lesbarkeit des Malprozesses sind für Awe keine Werte an sich.
Auch die Idee der Schnelligkeit, die dem Abstrakten Expressionismus oft so wichtig ist, weil sie Unmittelbarkeit garantiert, ist bei Awe problematisch. Da viele seiner Arbeiten den Eindruck großer Dynamik und Geschwindigkeit erwecken, schließen viele Betrachter auf einen schnellen, explosiven und spontanen Schaffensprozess. Das entspricht aber gar nicht oder nur teilweise den Tatsachen. Die Arbeitsweise Awes lässt zwar Zufälligkeiten zu und der Künstler lässt sich gerne von seinen Werken überraschen, aber das Auftragen, Trocknen und teilweise Ablösen von 5 bis 15 Farbschichten ist ein bewusst gesteuerter Prozess, der oft mehrere Wochen dauert. Dabei gibt es viele sehr überlegte Arbeitsschritte, die zwar als solche die Präzision seiner Kompositionen erklären, aber sich an der Bildoberfläche nicht direkt als solche zu erkennen geben. Was wie zufällig aussieht, kann hier bewusst durch Abtragen geformt oder gemalt sein. Viele Bildzonen, die wirken als seien sie addiert und auf das Bild getropft, wurden in Wirklichkeit durch Subtraktion wieder aus tieferen Schichten an die Oberfläche geholt. Technisch steht Awe den Decollagisten wie Mimmo Rotella oder Jacques Villeglé in diesem Sinne näher als vielen der amerikanischen Action Painters. Im Übrigen unterscheidet sich schon zur Blütezeit des traditionellen Action Paintings die Arbeitsweise verschiedener Maler entschieden: Willem de Koonings Bilder beispielsweise evozieren einen schnellen Pinselstrich, während er in Wirklichkeit oft monatelang an einem Werk arbeitete. Awe selbst verweist auf die relative Langsamkeit Jean-Michel Basquiats. Es sei dahingestellt, ob man in diesem Rahmen bereits von einer Art Illusion (zum Beispiel von Geschwindigkeit oder visueller Vordergründigkeit) sprechen will, die der Modernismus, der den intellektuellen Hintergrund des Action Paintings bildet, ablehnen würde.
In seiner Illusionskritik richtet sich der Modernismus-Theoretiker Clement Greenberg besonders gegen jeden Versuch, auf flacher Leinwand ein Gefühl von Tiefe zu erzeugen. Wer als Künstler darauf abzielt, hat nach Ansicht des amerikanischen Kritikers Malerei als Medium missverstanden. Greenberg schätzt im Gegenteil Werke, die die Flachheit der Leinwand betonen und damit hervorheben, was der Malerei zu eigen ist und sie auch von der Skulptur unterscheidet. Zunächst scheint es, als würden viele der Bilder Awes – gerade auch die Wasserbilder, die so sehr den Eindruck der Dreidimensionalität wecken – auch in diesem Sinne Greenbergs Aufforderung widersprechen und praktisch an Bildtheorien anknüpfen, die, von Platon bis Lessing, Illusion als das Ziel der Kunst definieren – auch wenn sie ohne Objekte auskommen. Sieht man sich aber die Texte Greenbergs genauer an, stellt man fest, dass auch er der Illusion einen Platz einräumt. Manchmal, so Greenberg, „unterstreicht der Künstler bewusst das Illusorische der Illusion, die er zu schaffen vorgibt. […] Das Ergebnis ist eine optische Illusion, keine realistische. Diese unterstreicht gerade die Undurchdringlichkeit der flachen Oberfläche.“ (C. Greenberg, „Towards a newer Laocoon“, 1940) Genau das scheint mir aber die Erfahrung zu sein, die uns die Wasserbilder vermitteln. Durch ihre fast surreale Plastizität lassen sie die Flachheit des Mediums umso deutlicher hervortreten. Treten wir nah genug heran um nach den Tropfen zu greifen „verflacht und verschwindet alles“. Weil wir im wahrsten Sinne ent-täuscht werden, sind wir es gerade nicht: die Tropfen sind dreidimensional auf ganz glatter Oberfläche.
Die Genese der Wasserbilder bringt uns den Schaffensprozess Awes näher. Die Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit tritt hier gerade deshalb deutlich hervor, weil ein Unfall am Anfang stand. Davon gleich mehr. Wichtig ist zunächst, dass für Christian Awe Kunst schon lange bevor der Begriff der artistic research in aller Munde war, mit Magie, Forschung und Handwerk zugleich zu tun hatte. Als Kind einer nicht besonders kunstbeflissenen Familie in Ostberlin, beobachtete er mit sechs Jahren, wie der Maler Manuel García Moia ein riesiges Kunstwerk auf einer Hauswand entstehen ließ. Bis heute nicht vergessen hat er dabei, wie der Künstler aus nur sechs Farben, die ihm zur Verfügung standen, 30 Farbtöne mischte. Dieser Aspekt faszinierte den Jungen offenbar mehr als der Inhalt des Bildes, den der Erwachsene auch heute nicht erwähnt, wenn er von seinem Schlüsselerlebnis berichtet. Vielleicht hängt es mit dieser frühen Erfahrung zusammen, dass Awe sich nicht mit einer bloßen Nutzung vorgefundener Materialen zufrieden gibt, sondern ständig nach neuen Techniken sucht, um seine Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Schüttbilder, Musterbilder, Wasserbilder… Immer wieder fällt bei Awe eine stilistische Veränderung mit der Entwicklung einer neuen Technik zusammen. In seinen Wasserbildern, die seit 2015 entstehen, zwingt er Wassertropfen, die sonst nur transitorisch denkbar sind, zum Verweilen. Dabei hat er gar nicht nach einer solchen Lösung gesucht, sondern bloß ein Bild im Regen stehen lassen. In anderen Worten: es gäbe diese Bilder nicht ohne die Serendipity, die auch für viele nicht-künstlerische Forschungserfolge wesentlich ist. Es handelt sich um das Prinzip, dem wir die Post Its und den Klettverschluss, das Penicillin und die Entdeckung der Röntgenstrahlung verdanken. Horace Walpole, der Autor, der den Begriff geprägt hat, definiert die Serendipität als die Fähigkeit, etwas zu finden, das man nicht gesucht hat. Wie Fleming das Penicillin entdeckte, als er eine Nährplatte mit Staphylokokken vergaß und sich darauf Schimmel bildete, entwickelte Awe die Technik für seine Wasserbilder, nachdem ein Bild, das zum Trocknen auf der Terrasse stand, Regen abbekam. Als es ihm gelang, den Ärger über das fahrlässig zerstörte Werk zu überwinden, entdeckte der Künstler das Potential zu einem neuen Typ Bild. Darin verbirgt die Kunst die Kunst so sehr, dass sie wie Natur wirkt und es scheint, als hätte der Künstler nicht gemalt, sondern bloß die Spur eines natürlichen Prozesses „eingefangen“. Phänomen und Abbildung des Phänomens fallen hier auch räumlich zusammen. Das Ergebnis sind Bilder, die so plastisch wirken, dass wir sie anfassen müssen, um unsere Augen Lügen zu strafen.
Die „reinen“ Wasserbilder von 2015 unterscheiden sich durch ihre relative kompositorische Einfachheit. Nur wenige Schichten liegen hier übereinander und die Werke haben oft eine klare Richtung. Manchmal hintergründig sind sie doch viel übersichtlicher und weniger explosiv als viele der früheren Arbeiten. Sie legen eine kontemplativere Betrachterhaltung nahe. Zwar auch auf dauerhafte Betrachtung angelegt, enthalten sie weniger ambivalente Formen als vieles, was der Künstler zuvor geschaffen hat. Die Wasserbilder von 2015 erscheinen so auch visuell als eine Verlangsamung in seinem Schaffen, das mit der Entwicklung und Integration eines neuen Mittels in sein malerisches Repertoire einhergeht. In den Werken von 2016, die Wasserelemente aufgreifen, nimmt die Schichtung wieder zu und Stilelemente seiner vorherigen Arbeit tauchen wieder auf. Sein Formenrepertoire hat das Wasser organisch integriert, wie in den Jahren zuvor schon die Kiesel oder Muster.
Während die Langsamkeit von Awes Malprozess den Eindruck von Schnelligkeit, den seine Bilder ausstrahlen, Lügen straft, erklärt sie vielleicht die Komplexität der Werke. Denn zwar besitzen viele Bilder eine große Kohärenz, und ihre Struktur ist deshalb relativ schnell erfassbar; zwar lässt sich ein Werk wie Begegnung, das Wandbild, das Awe 2016 für die Landesvertretung Niedersachsen in Berlin geschaffen hat, auf ein Prinzip wie Einheit der Vielfalt beziehen – die Werke laden dennoch zu einer längeren Beschäftigung ein. Nicht nur, weil nur so der Betrachter hoffen kann, doch noch die Erzählung zu rekonstruieren, die sie indexikalisch vermitteln, sondern auch wegen der vielen Schichten und ambivalenten Formen, die verschiedene Deutungen zulassen. Auch in diesem Sinn sind seine Arbeiten „klassisch“, denn wie G. E. Lessings, ein Zeitgenosse Diderots, 1766 in seinem Laokoon erklärt, sind Werke der Malerei nicht da um „bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden […]. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ Auch hier geht es natürlich nicht um abstrakte Kunst, ja nicht einmal um Stilleben, sondern um Historienmalerei, das Darstellen mythologischer oder religiöser Erzählung – und zwar nicht als Spur, sondern ikonisch bildhaft. Aber auch dieses Zitat lässt sich auf Awe beziehen. Nicht nur, weil er Bilder schaffen möchte, an denen man sich nicht satt sieht; Werke, die so komplex sind, dass man darin immer wieder etwas Neues entdeckt; nicht-figurative Darstellungen, die sich Familien abends gemeinsam ansehen statt fern zu sehen, sondern auch, weil er in seinen Bildern das Vorübergehende fixiert und so fruchtbare Momente schafft, die, wie Lessing gesagt hätte, „Einbildungskraft“ anregen, mehr hinzu zu denken als wir zu sehen glauben.
Spannend ist, dass Awes Arbeit uns geradezu herausfordert, traditionelle Überlegungen zur Kunst heranzuziehen, und dennoch so dezidiert zeitgenössisch wirkt, dass es schwierig wäre, sich auch nur vorzustellen, sie sei im 20. Jahrhundert geschaffen worden. Unseren postdigitalen Augen fällt es sogar schwer, sie ganz von Assoziationen mit computergenerierten Formen frei zu halten. In der realen Welt schien etwas entweder geflossen oder gemustert zu sein. Wenn ein Farbtopf oder eine Spraydose mit Muster statt Farbe gefüllt sind, sind sie digital. Muster tropfen zu lassen schien nur im Grafikprogramm möglich. Seltsamerweise erinnere ich mich noch ganz dezidiert an meine Überraschung, als ich erstmals gesprühte oder geflossene Tapetenmuster aus der Dose kommen sah – auch wenn die Dose virtuell war und die Muster nur auf meinem Bildschirm erschienen. So rufen also Awes reale Musterbilder Erinnerungen an digitale hervor. Ist dieser Transfer einmal vollzogen, digitalisiert sich seine Arbeit vorübergehend mental, seine echten Schichten erinnern uns an die Layers auf Photoshop und die Farbintensität seiner Werke lassen uns an eine Hintergrundbeleuchtung glauben, wie sie unsere Bildschirme haben… .
Auch wenn es uns in manchen Fällen schließlich gelingt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit anzupassen, die Subtraktion nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch zu sehen, die Illusion der geflossenen Muster langsam nachlässt und damit auch die digitalen Assoziationen schwächer werden, finden wir doch immer wieder zu unserer primären Wahrnehmung zurück, in der Muster fließen, Explosionen stillstehen und Wassertropfen auf der Fläche rund bleiben. Awes Bilder werden dabei zu Kippbildern, die wie Jastrows Hasenente als das eine oder andere erscheinen können, wobei jede der Deutungen eine ganze Reihe anderer Seherfahrungen nach sich zieht: „Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“ (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen). Während also ein besseres Verständnis des Vorher, Nachher, Davor, Dahinter, Hinzugefügt oder Weggenommen zu einer Ent-Täuschung führen kann, ist diese eine Bereicherung, denn beim nächsten Blick ist noch immer alles umgekehrt.
Zum Autor: Dr. Klaus Speidel ist Philosoph und Kunstkritiker. Er hat in München und Paris studiert und dort an der Sorbonne promoviert. 2015 wurde er mit dem Prix AICA France für Kunstkritik ausgezeichnet. Seit Oktober 2015 leitet er als Lise-Meitner Postdoc Fellow das Projekt „Zur experimentellen Narratologie des Bildes“ im Labor für empirische Bildwissenschaft an der Universität Wien.