Publication

SPRACHEN: Deutsch | Englisch
FORMAT: 30 × 21 cm
EIGENSCHAFTEN: 79 Seiten, 37 Farbabbildungen, Softcover
ISBN: 978-3-948504-04-5
VERÖFFENTLICHUNG: September 2021
Diese Publikation erschien anlässlich der Ausstellung „color and vibes“ in Kooperation mit Samuelis Baumgarte Galerie, Bielefeld. Mit einem Textbeitrag von Jörg Mascherrek.
Online-Katalog

SPRACHE: Deutsch
FORMAT: 32 × 25 cm
EIGENSCHAFTEN: 80 Seiten, 51 Farbabbildungen, Softcover mit Fadenknotenheftung
VERÖFFENTLICHUNG: September 2017
Die Publikation ist erschienen zur Ausstellung „Influx“ in Kooperation mit der Galerie Ostendorff, Münster.

SPRACHEN: Deutsch | Englisch
FORMAT: 28 × 23 cm
EIGENSCHAFTEN: 120 Seiten, 51 Farbabbildungen, Softcover mit Klappen
ISBN: 978-3-942248-29-7
VERÖFFENTLICHUNG: September 2016
Diese Publikation erschien anlässlich der Ausstellung LIQA‘ in Kooperation mit der Galerie Ludorff, Düsseldorf.
Mit Texten von Dr. Klaus Speidel und Arsalan Mohammad.
Informationen zur Ausstellung auf der Galeriewebsite.

SPRACHE: Deutsch
FORMAT: 32 × 32 cm
EIGENSCHAFTEN: 64 Seiten, 45 Farbabbildungen, Cover kartoniert, Poster
ISBN: 978-3-00-050586-7
VERÖFFENTLICHUNG: Juni 2015
Diese Publikation dokumentiert die Ausstellung „OffYourColorChart“ von Christian Awe im Nextower Frankfurt in Kooperation mit der Deutschen Bank und Pret A Diner.

SPRACHE: Deutsch
FORMAT: 21 × 21 cm
EIGENSCHAFTEN: 72 Seiten, 94 Farbabbildungen, Softcover
VERÖFFENTLICHUNG: 2013
Diese Publikation ist erschienen in Kooperation mit Fahnemann Projects, Berlin.
Text
Christian Awe ist ein aktueller zeitgenössischer, am Puls der Metropolen arbeitender junger Künstler, der – und das mag auf den ersten Blick vielleicht verwundern – durchaus in seinen Arbeiten traditionelle, wenngleich auch extreme malerische Positionen des 20. Jahrhunderts thematisiert. Kein kunsthistorisch geschulter Kritiker übersieht, dass die erkennbaren Strukturen der Bilder von Christian Awe einem informellen „all over“ geschuldet sind, das so unverwechselbar und eindeutig aus den nach 1945 entstandenen Arbeiten von Jackson Pollocks bekannt ist. Die Farbigkeit wiederum, die in bewusster Übersteigerung aller „Buntwertigkeiten“ agiert, widerspricht einer solchen Pollock’schen Strategie und verweist auf die frühen farbmalerischen Exzesse einer Generation der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, die mit der Malerei als überkommener Gattung zu brechen begann.
Christian Awe ist sich dieser zitathaften Annäherung an diese Positionen wohl bewusst und dekliniert sie in seiner künstlerischen Arbeit nahezu mühelos durch. Das Ergebnis scheint sich auf diese traditionellen Formen zurück zu beziehen, aber der Prozess, der die Werke entstehen lässt, ist ein völlig anderer und leitet die „unmalerischen“ Werke der Vorgänger in eine reine Form der Malerei über. Was bedeutet das?
Nach 1947 begann Jackson Pollock damit, die Malleinwand auf den Fußboden seines Ateliers zu legen, um sie herumzugehen – manchmal auch über sie hinweg – und sie mit Farbe zu bespritzen, zu betröpfeln und auch bewegungsvoll zu begießen. Er nutzte diese „gestische“ Technik, um so unmittelbar wie möglich zu malen, um „buchstäblich im Bilde zu sein“, wie er es formulierte. Die Tropfbilder, die sogenannten Drip-Paintings, schockierten die Betrachter, als sie 1948 zum ersten Mal gezeigt wurden. Sein Verzicht auf überlieferte Techniken verletzte die konventionellen Anschauungen von Kunst und brachte ihm den Spottnamen „Jack the Dripper“ ein. In Verweis auf den berühmten Frauenmörder „Jack the Ripper“ galt Pollock als der Mörder der Kunst überhaupt. Pollock lässt in seinem Dripping-Verfahren die Farbe aus einem Behälter oder von einem Stock auf die am Boden liegende Leinwand fließen oder tropfen, wobei er mit dem freischwingenden Gefäß oder Stock verschiedene gestenartige Bewegungen vollzieht. Diese sind die Voraussetzung zu einer absoluten Freisetzung der Aktion des Malers. Indem die Leinwand auf dem Boden ausgebreitet wird und zudem sehr große Ausmaße besitzt, kann der Maler in eine konkrete, räumliche und körperliche Beziehung zur Leinwand treten. In diesem Sinne wird die Leinwand tatsächlich zur Arena, in der der Maler agiert. Dieses Verhältnis von Künstlerraum und Leinwandfeld bedingt im Sinne des Begriffes Aktion, nicht eigentlich Malerei. Im Verfahren des Dripping kann der Künstler über der Leinwand agieren, ohne sie zu berühren, so dass seine Aktionen aus dem unmittelbaren Kontakt mit der Leinwand entlassen sind, und dieser Kontakt ist die eigentliche Bedingung der Malerei. Die Aktion ist also nicht unbedingt auf eine zweidimensionale, gleichsam zeichnerische Geste beschränkt, die in direktem Kontakt zur Leinwand steht. Die Geste ist raumgreifend in ihrer Aktion. So definierte es Walter Kambartel „Die durch das Dripping-Verfahren freigesetzte Aktion hat zwar Malerei zur Folge, nicht aber Malerei zur Bedingung.“ (Walter Kambartel, Jackson Pollocks Aktion-Painting, in: Giesener Beiträge zur Kunstgeschichte, Band II, 1973, Seite. 263-279, hier Seite 268)
Jackson Pollock brach mit den Konditionen der Malerei, um nach 1945 einen neuen Zugang zu den Formen von Abstraktion und Ausdruck zu gewinnen. Die Werke von Pollock sind allesamt unbunt, meist nur mit schwarzer und dunkelbrauner Farbe auf weißem Grund getropft. Wenn es Einschüsse von Farbigkeit in den Werken gibt, dann ist die in höchstem Maße reduziert. Die Linie als Phänomen des Raumes in ihrem „all over“ ist unbegrenzt und macht den Betrachter gleichsam ortlos.
Christian Awe greift diese informellen Strukturen auf, aber er malt sie. Die Ortlosigkeit der Linien und Spuren in seiner Malerei haben eine andere und eine weitere Dimension. Aus der Street-Art erwachsen, der er bereits als Junge einen Großteil seiner Zeit und seiner Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, hat sich ein völlig neues Raumgefühl in der Malerei entwickelt, das sich nun in seinen Arbeiten immer stärker verdichtet und zum Ausdruck kommt. Die Werke sind in vielen Schichten auf einem gesprühten Untergrund erarbeitet, dessen Farbatmosphäre einem illusionistischen Tiefenraum nahe kommt. Hierauf bildet sich dann auf den stark farbigen Gründen eine unendliche Vielzahl an buntwertigen Schichten, die sich zum Teil überlagern, durchdringen und so ein Vor- und Hintereinander postulieren, das einen Raum innerhalb des Bildes öffnet, in den der Rezipient bei der Betrachtung selbst gleichsam eingesogen wird. Die Schichtungen, die Christian Awe sehr genau austariert und auslotet, verknüpfen unterschiedliche und scheinbar disparate Elemente miteinander. Wir erkennen schablonierte Ornamente neben offenbar zufällig getropften oder gestisch vollzogenen Bildschriften. Die Durchdringung der Elemente untereinander ist so komplex, dass in der Betrachtung die Fragestellung, welche Elemente hier hinter welchen angesiedelt sind, oftmals in eine verwirrende Simultaneität verschwimmen, in der die Betrachtung durchaus in einen Farbrausch gerät. Die Farbigkeit wiederum, die Christian Awe nicht zuletzt aus der Auseinandersetzung mit Graffiti und Sprühlacken entwickelt hat, erinnert an die frühen Farbmalereien, in denen aus Dissonanzen und Konsonanzen, aus Kontrasten und Brechungen ein Kraftfeld in der Malerei aufgemacht wurde, in dem die Farben zu einem ständigen Pulsieren gebracht sind und die Leinwand und damit den Betrachter gleichsam beatmen.
Nun entstehen Christian Awes Arbeiten aber nicht aus der rein gestischen und mit Emotion aufgeladenen Aktion oder aus einer fast zwangsläufigen aus der Farbe heraus geborenen Erlebnisstruktur, sondern Christian Awe komponiert und konzentriert seine verschiedenen Techniken und Strukturen immer wieder aus der reinen Malerei und setzt Schicht für Schicht auch unter Dekonstruktion von Schichten, in denen ganze Stücke wieder abgerissen werden, so auf der Leinwand zusammen, dass der Ausdruck von Zufälligkeit entsteht, dieser aber im höchsten Maße geplant, gezielt gesetzt und elaboriert erarbeitet ist. Christian Awe malt die Geste, er konstruiert den Zufall und er schafft damit Raumbilder mit gestischem Ausdruck, die sich bei näherer Betrachtung als fast plastische Werke erweisen, die den Betrachter in einen eigenen Kosmos einladen.
Was die Arbeiten von Christian Awe in einem weiteren Grad auszeichnet, ist ihr architektonischer innerer Bezug. Versuchte Pollock durch das Niederlegen der Leinwand auf den Boden eine gleichsam architektonische Zuordnung aufzulösen und sich selbst als Individuum in der Leinwand zu bewegen, in einem Rundum, das nicht mehr orthogonal gesteuert war, ist Christian Awes Malerei aus der ursprünglichen Anbringung an Orten innerhalb von Metropolen erwachsen, bei denen es immer um Gebäude, architektonische Einheiten und spezifische Orte gegangen ist. Dieses Vorwissen tragen die Arbeiten weiterhin in sich, denn sie scheinen einer konkreten Örtlichkeit entnommen bzw. auf sie hin projiziert zu sein.
Mit dem Hintergrund des „Ateliers Stadtraum“ fällt es Christian Awe leicht, seine Malerei in den unterschiedlichsten Dimensionen umzusetzen. Von riesengroß bis mittelformatig und klein reichen die Formate und behaupten trotzdem ihre Eigenständigkeit und spezifische Kompositionsstruktur. Die Anbindung und Referenz auf architektonische Orte wohnt der Malerei gleichsam inne und lässt sich auch in ihrer eigenen Materialität nachvollziehen. Hier ist Malerei nicht immateriell sondern erweist sich in ihrer Schichtung und Konzentrierung als durchaus materielle Struktur einer konkreten stofflichen Präsenz.
Technisch steht Christian Awe mit seinen virtuos inszenierten Bildern einem Maler der Renaissance näher als einem Jackson Pollock, wenngleich sein „Pinsel“ die Sprühflasche oder auch der Spachtel ist. Die Gesetztheit der einzelnen Elemente, auch wenn sie mit gewissen Duktus der Zufälligkeiten agieren, sind stets geplant und entwickeln sich experimentell auch durch die Verwendung unterschiedlicher Materialien, Farben und Strukturen. Die Rhythmik, die sich in seinen Arbeiten immer wieder auf den ersten Blick als Aktion lesen lässt, ist letztlich auch das Ergebnis von musikalischen Adaptionen, die in seinen Werken nicht nur in einigen Titeln präsent sind sondern auch durch kontinuierliche Auseinandersetzung mit Musik – auch während der Prozesse der Bildentstehung. Dieser Rhythmus ist der Rhythmus einer großen Metropole, die in den Arbeiten aufzuschillern vermag. Nicht ganz von der Hand zu weisen sind in diesem Kontext auch durchaus konkrete Bezüge zu Natur und Landschaft, aber eben auch zu dem eigentlichen Element der Bilder, den großstädtischen Bereichen, in dem sie letztlich entstehen und verortet sind. Diesem Raum sind sie zugeordnet und diesen Raum tragen sie auch als vielfältige Struktur der Malerei in sich.
Ein weiterer Aspekt der Malerei von Christian Awe ist ihre faktische Geschlossenheit. Sind die Arbeiten von Jackson Pollock gleichsam über ihre Bildgrenzen hinaus unendlich erweiterbar, erscheinen die informellen Strukturen bei Christian Awe letztlich auf das Bildformat konzentriert. Auch wenn sie über die Bildgrenzen hinausweisen und hier unendliche Strukturen wiederholbar werden lassen, ist die Geschlossenheit der Bildfläche, auch was ihre materielle Qualität betrifft, so kompakt, dass das Bild für sich eine Einheit bildet, die sich in sich selbst genügt. Die Dimensionen des Bildes verweisen eher in die Tiefe denn über die Bildgrenzen hinaus und erweisen auch hier ihre eigentliche Tradition in der Malerei schlechthin, die sich neu in diesen Bildern manifestiert.
In seinen jüngsten Werken setzt Awe stärker figurative Elemente ein. Hierbei setzt er Gestalten oder Objekte in die Bildstruktur, die an gegenstandsbestimmte Formen oder Personen erinnern. Diese wirken wie herausgesprengt aus der komplexen Bildoberfläche und geben wiederum in ihrem konkreten Profil den Blick auf tieferliegende meist ornamentale Flächen frei. Die dabei entstehenden Gemälde wirken dadurch insgesamt konkreter und verdichteter. Es bilden sich „Erlebnisräume“, die dem Betrachter scheinbar den Blick auf dschungelartige Welten eröffnen ohne dass sich in der Tat solch erzählerische oder illustrative Vorgehensweisen des Künstlers belegen ließen. Kombiniert werden in diesen Verdichtungen dann auch – wie collagiert wirkende – Flächenfüllungen, die an Rastermuster, Schablonenstrukturen oder gemusterte Fundobjekte angelehnt sind und so den Duktus einer wie durch Zufall entstandenen oder mit der Zeit verfallenen Oberfläche vermitteln, wie eine Referenz an die Plakatabrissbilder der 60er Jahre. Aber wie in seinen Werken stets basierend auf malerischer Ausformulierung und handwerklich-artifiziellem Kalkül, das durchaus entgegen allem Zufälligen und Gefundenen entsteht.
Christian Awe hat in seiner künstlerischen Entwicklung aus der Aktion der Street-Kunst, die ganz unmittelbar aus den Prägungen des abstrakten Expressionismus der Mitte des 20. Jahrhunderts ihren Weg in die Straßen der Städte gefunden hat, den bewussten Weg zurück in die Malerei genommen. Eine Malerei, die die Fläche des Bildes und ihre unverwechselbare Sinnhaftigkeit bestätigt und nachhaltig verstärkt. Eine Malerei, die bei aller Vitalität, bei ihren scheinbaren Zufälligkeiten, in ihrer wilden Farbigkeit und respektlosen Dekonstruktion vor allen Dingen eines bestätigt:
Die Malerei ist Ausdruck der Fähigkeit des Menschen zur höchsten Abstraktion.
Dr. Gabriele Uelsberg
Direktorin des
LVR-LandesMuseum Bonn
Klaus Speidel
„Das ist die Natur selbst. Die Gegenstände treten aus der Leinwand hervor und haben eine Wahrheit, die die Augen täuscht […]. Man versteht diese Magie überhaupt nicht. Da sind dicke, aufeinander aufgetragene Farbschichten, deren Effekt von unten nach oben durchdringt. In anderen Fällen möchten wir behaupten, ein feiner Dunst sei auf die Leinwand gehaucht, und wieder ein anderes Mal, ein leichter Schaum sei darüber gespritzt. […]. Treten Sie näher: alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfernen Sie sich: alles erschafft und erzeugt sich wieder neu.“ (Denis Diderot, aus dem „Salon von 1763“)
Vollkommen anachronistisch am Anfang dieses Aufsatzes platziert bezieht sich Denis Diderots Zitat von 1763 eigentlich auf die figurative Stilleben-Malerei des französischen Salonmalers Jean-Baptiste Siméon Chardin. Eigentlich. Denn soweit Diderot auch historisch von Christian Awes Arbeit entfernt ist, so nah kommt seine Beschreibung ihr doch der Sache nach. Wie im Werk Chardins fasziniert in Awes Arbeiten nicht zuletzt die Spannung zwischen Malerei und Bild. Wie Chardin ist auch Awe ein Künstler, bei dem Farbe, Form und Pinselstrich ihre Eigenwerte behalten – und dennoch ein Illusionist. Farbe Farbe sein lassen und gleichzeitig täuschen, das ist ein Paradox, das nicht nur das 18. Jahrhundert interessiert. Der Vergleich von Christian Awe mit Jackson Pollock ist zumindest in dieser Hinsicht irreführend, auch wenn er sich nicht zu unrecht aufdrängt. Denn die Striche, Spritzer und der Farbfluss des amerikanischen Malers sind relativ unvermittelt und damit jenseits jeder Illusion lesbar. Pollocks Drippings sind Spuren. Nicht-abbildend verweistein Werk Pollocks dennoch indexikalisch auf seinen Entstehungsprozess und macht ihn nachvollziehbar. Wie ein Tatort verweist es indizienhaft auf die Ereignisse seiner eigenen Entstehung. Damit wird es nicht nur selbstreflexiv, sondern zeichenhaft erzählend, insofern nämlich Narration per definionem Darstellung von Handlungen und Ereignissen ist.
Harold Rosenberg, der Erfinder des Ausdrucks „Action Painting“ formuliert es 1952 besonders pointiert: „Was auf der Leinwand passiert ist kein Bild sondern ein Ereignis“ (H. Rosenberg, „American Action Painters“, 1952). Die Leinwand wird dem Action Painter zu „einer Arena“, in der der Maler nicht darstellt, sondern handelt.Der Künstler wird zum Gladiator, der in die Arena steigt. Das Werk ist das was vom Kampfe übrigbleibt. Mit Spritzern übersäht könnte auch manches Werk Awes solch martialische Assoziationen wecken. Aber der erste Eindruck täuscht. Während auch seine Leinwände Spuren tragen, die auf eine Reihe Handlungen schließen lassen, ist es viel schwerer, sie direkt indexikalisch zu lesen. Man glaubt zu verstehen, wie die Schichten aufeinander folgen, aber durch subtiles Schichten und Ablösen wird in Wirklichkeit ein Ablesen der schöpferischen Handlungen aus dem Werk fast unmöglich. Oft wirkt auf den ersten Blick wie ein spontaner Spritzer, was der realen Handlung nach ein langsames Abtragen ist. Awes Arbeit stellt so nicht nur die Engführung von empfundener Schnelligkeit im Ausdruck und realer Schnelligkeit im Schaffensprozess infrage, sondern schafft in diesem Zusammenhang weitere Paradoxien. So spricht Gabriele Uelsberg in Bezug auf seine Arbeit von einer „Konstruktion des Informellen“ und legt eine Ähnlichkeit mit Renaissance-Malerei nahe. Tatsächlich könnte man Awes Arbeit mit der Sprezzatura in Zusammenhang bringen, die nach dem italienische Renaissance-Theoretiker Baldassare Castiglione zum künstlerischen Prinzip par excellence avanciert. Und die Sprezzatura ist die gekonnte Simulation von Spontaneität, die Fähigkeit „es so aussehen zu lassen, als sei das, was man geschaffen hat, ohne Schwierigkeit und fast ohne Nachdenken entstanden“ (B. Castiglione, Il Cortegiano, 1528) – während in Wirklichkeit das Gegenteil der Fall sein mag (und vermutlich sein sollte). Während visuell der Unterschied groß ist zwischen italienischer Malerei der Renaissance und Awes abstrakten Kompositionen, ist der Weg bei beiden ähnlich: es geht um Kunst, die die Kunst verbirgt.
Wie die Werke der Renaissance gehen Awes Arbeiten auf den Betrachter zu, wollen ihn, wie der Maler selbst sagt, „in Staunen versetzen“. Unmittelbarkeit und totale Lesbarkeit des Malprozesses sind für Awe keine Werte an sich.
Auch die Idee der Schnelligkeit, die dem Abstrakten Expressionismus oft so wichtig ist, weil sie Unmittelbarkeit garantiert, ist bei Awe problematisch. Da viele seiner Arbeiten den Eindruck großer Dynamik und Geschwindigkeit erwecken, schließen viele Betrachter auf einen schnellen, explosiven und spontanen Schaffensprozess. Das entspricht aber gar nicht oder nur teilweise den Tatsachen. Die Arbeitsweise Awes lässt zwar Zufälligkeiten zu und der Künstler lässt sich gerne von seinen Werken überraschen, aber das Auftragen, Trocknen und teilweise Ablösen von 5 bis 15 Farbschichten ist ein bewusst gesteuerter Prozess, der oft mehrere Wochen dauert. Dabei gibt es viele sehr überlegte Arbeitsschritte, die zwar als solche die Präzision seiner Kompositionen erklären, aber sich an der Bildoberfläche nicht direkt als solche zu erkennen geben. Was wie zufällig aussieht, kann hier bewusst durch Abtragen geformt oder gemalt sein. Viele Bildzonen, die wirken als seien sie addiert und auf das Bild getropft, wurden in Wirklichkeit durch Subtraktion wieder aus tieferen Schichten an die Oberfläche geholt. Technisch steht Awe den Decollagisten wie Mimmo Rotella oder Jacques Villeglé in diesem Sinne näher als vielen der amerikanischen Action Painters. Im Übrigen unterscheidet sich schon zur Blütezeit des traditionellen Action Paintings die Arbeitsweise verschiedener Maler entschieden: Willem de Koonings Bilder beispielsweise evozieren einen schnellen Pinselstrich, während er in Wirklichkeit oft monatelang an einem Werk arbeitete. Awe selbst verweist auf die relative Langsamkeit Jean-Michel Basquiats. Es sei dahingestellt, ob man in diesem Rahmen bereits von einer Art Illusion (zum Beispiel von Geschwindigkeit oder visueller Vordergründigkeit) sprechen will, die der Modernismus, der den intellektuellen Hintergrund des Action Paintings bildet, ablehnen würde.
In seiner Illusionskritik richtet sich der Modernismus-Theoretiker Clement Greenberg besonders gegen jeden Versuch, auf flacher Leinwand ein Gefühl von Tiefe zu erzeugen. Wer als Künstler darauf abzielt, hat nach Ansicht des amerikanischen Kritikers Malerei als Medium missverstanden. Greenberg schätzt im Gegenteil Werke, die die Flachheit der Leinwand betonen und damit hervorheben, was der Malerei zu eigen ist und sie auch von der Skulptur unterscheidet. Zunächst scheint es, als würden viele der Bilder Awes – gerade auch die Wasserbilder, die so sehr den Eindruck der Dreidimensionalität wecken – auch in diesem Sinne Greenbergs Aufforderung widersprechen und praktisch an Bildtheorien anknüpfen, die, von Platon bis Lessing, Illusion als das Ziel der Kunst definieren – auch wenn sie ohne Objekte auskommen. Sieht man sich aber die Texte Greenbergs genauer an, stellt man fest, dass auch er der Illusion einen Platz einräumt. Manchmal, so Greenberg, „unterstreicht der Künstler bewusst das Illusorische der Illusion, die er zu schaffen vorgibt. […] Das Ergebnis ist eine optische Illusion, keine realistische. Diese unterstreicht gerade die Undurchdringlichkeit der flachen Oberfläche.“ (C. Greenberg, „Towards a newer Laocoon“, 1940) Genau das scheint mir aber die Erfahrung zu sein, die uns die Wasserbilder vermitteln. Durch ihre fast surreale Plastizität lassen sie die Flachheit des Mediums umso deutlicher hervortreten. Treten wir nah genug heran um nach den Tropfen zu greifen „verflacht und verschwindet alles“. Weil wir im wahrsten Sinne ent-täuscht werden, sind wir es gerade nicht: die Tropfen sind dreidimensional auf ganz glatter Oberfläche.
Die Genese der Wasserbilder bringt uns den Schaffensprozess Awes näher. Die Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit tritt hier gerade deshalb deutlich hervor, weil ein Unfall am Anfang stand. Davon gleich mehr. Wichtig ist zunächst, dass für Christian Awe Kunst schon lange bevor der Begriff der artistic research in aller Munde war, mit Magie, Forschung und Handwerk zugleich zu tun hatte. Als Kind einer nicht besonders kunstbeflissenen Familie in Ostberlin, beobachtete er mit sechs Jahren, wie der Maler Manuel García Moia ein riesiges Kunstwerk auf einer Hauswand entstehen ließ. Bis heute nicht vergessen hat er dabei, wie der Künstler aus nur sechs Farben, die ihm zur Verfügung standen, 30 Farbtöne mischte. Dieser Aspekt faszinierte den Jungen offenbar mehr als der Inhalt des Bildes, den der Erwachsene auch heute nicht erwähnt, wenn er von seinem Schlüsselerlebnis berichtet. Vielleicht hängt es mit dieser frühen Erfahrung zusammen, dass Awe sich nicht mit einer bloßen Nutzung vorgefundener Materialen zufrieden gibt, sondern ständig nach neuen Techniken sucht, um seine Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Schüttbilder, Musterbilder, Wasserbilder… Immer wieder fällt bei Awe eine stilistische Veränderung mit der Entwicklung einer neuen Technik zusammen. In seinen Wasserbildern, die seit 2015 entstehen, zwingt er Wassertropfen, die sonst nur transitorisch denkbar sind, zum Verweilen. Dabei hat er gar nicht nach einer solchen Lösung gesucht, sondern bloß ein Bild im Regen stehen lassen. In anderen Worten: es gäbe diese Bilder nicht ohne die Serendipity, die auch für viele nicht-künstlerische Forschungserfolge wesentlich ist. Es handelt sich um das Prinzip, dem wir die Post Its und den Klettverschluss, das Penicillin und die Entdeckung der Röntgenstrahlung verdanken. Horace Walpole, der Autor, der den Begriff geprägt hat, definiert die Serendipität als die Fähigkeit, etwas zu finden, das man nicht gesucht hat. Wie Fleming das Penicillin entdeckte, als er eine Nährplatte mit Staphylokokken vergaß und sich darauf Schimmel bildete, entwickelte Awe die Technik für seine Wasserbilder, nachdem ein Bild, das zum Trocknen auf der Terrasse stand, Regen abbekam. Als es ihm gelang, den Ärger über das fahrlässig zerstörte Werk zu überwinden, entdeckte der Künstler das Potential zu einem neuen Typ Bild. Darin verbirgt die Kunst die Kunst so sehr, dass sie wie Natur wirkt und es scheint, als hätte der Künstler nicht gemalt, sondern bloß die Spur eines natürlichen Prozesses „eingefangen“. Phänomen und Abbildung des Phänomens fallen hier auch räumlich zusammen. Das Ergebnis sind Bilder, die so plastisch wirken, dass wir sie anfassen müssen, um unsere Augen Lügen zu strafen.
Die „reinen“ Wasserbilder von 2015 unterscheiden sich durch ihre relative kompositorische Einfachheit. Nur wenige Schichten liegen hier übereinander und die Werke haben oft eine klare Richtung. Manchmal hintergründig sind sie doch viel übersichtlicher und weniger explosiv als viele der früheren Arbeiten. Sie legen eine kontemplativere Betrachterhaltung nahe. Zwar auch auf dauerhafte Betrachtung angelegt, enthalten sie weniger ambivalente Formen als vieles, was der Künstler zuvor geschaffen hat. Die Wasserbilder von 2015 erscheinen so auch visuell als eine Verlangsamung in seinem Schaffen, das mit der Entwicklung und Integration eines neuen Mittels in sein malerisches Repertoire einhergeht. In den Werken von 2016, die Wasserelemente aufgreifen, nimmt die Schichtung wieder zu und Stilelemente seiner vorherigen Arbeit tauchen wieder auf. Sein Formenrepertoire hat das Wasser organisch integriert, wie in den Jahren zuvor schon die Kiesel oder Muster.
Während die Langsamkeit von Awes Malprozess den Eindruck von Schnelligkeit, den seine Bilder ausstrahlen, Lügen straft, erklärt sie vielleicht die Komplexität der Werke. Denn zwar besitzen viele Bilder eine große Kohärenz, und ihre Struktur ist deshalb relativ schnell erfassbar; zwar lässt sich ein Werk wie Begegnung, das Wandbild, das Awe 2016 für die Landesvertretung Niedersachsen in Berlin geschaffen hat, auf ein Prinzip wie Einheit der Vielfalt beziehen – die Werke laden dennoch zu einer längeren Beschäftigung ein. Nicht nur, weil nur so der Betrachter hoffen kann, doch noch die Erzählung zu rekonstruieren, die sie indexikalisch vermitteln, sondern auch wegen der vielen Schichten und ambivalenten Formen, die verschiedene Deutungen zulassen. Auch in diesem Sinn sind seine Arbeiten „klassisch“, denn wie G. E. Lessings, ein Zeitgenosse Diderots, 1766 in seinem Laokoon erklärt, sind Werke der Malerei nicht da um „bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden […]. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ Auch hier geht es natürlich nicht um abstrakte Kunst, ja nicht einmal um Stilleben, sondern um Historienmalerei, das Darstellen mythologischer oder religiöser Erzählung – und zwar nicht als Spur, sondern ikonisch bildhaft. Aber auch dieses Zitat lässt sich auf Awe beziehen. Nicht nur, weil er Bilder schaffen möchte, an denen man sich nicht satt sieht; Werke, die so komplex sind, dass man darin immer wieder etwas Neues entdeckt; nicht-figurative Darstellungen, die sich Familien abends gemeinsam ansehen statt fern zu sehen, sondern auch, weil er in seinen Bildern das Vorübergehende fixiert und so fruchtbare Momente schafft, die, wie Lessing gesagt hätte, „Einbildungskraft“ anregen, mehr hinzu zu denken als wir zu sehen glauben.
Spannend ist, dass Awes Arbeit uns geradezu herausfordert, traditionelle Überlegungen zur Kunst heranzuziehen, und dennoch so dezidiert zeitgenössisch wirkt, dass es schwierig wäre, sich auch nur vorzustellen, sie sei im 20. Jahrhundert geschaffen worden. Unseren postdigitalen Augen fällt es sogar schwer, sie ganz von Assoziationen mit computergenerierten Formen frei zu halten. In der realen Welt schien etwas entweder geflossen oder gemustert zu sein. Wenn ein Farbtopf oder eine Spraydose mit Muster statt Farbe gefüllt sind, sind sie digital. Muster tropfen zu lassen schien nur im Grafikprogramm möglich. Seltsamerweise erinnere ich mich noch ganz dezidiert an meine Überraschung, als ich erstmals gesprühte oder geflossene Tapetenmuster aus der Dose kommen sah – auch wenn die Dose virtuell war und die Muster nur auf meinem Bildschirm erschienen. So rufen also Awes reale Musterbilder Erinnerungen an digitale hervor. Ist dieser Transfer einmal vollzogen, digitalisiert sich seine Arbeit vorübergehend mental, seine echten Schichten erinnern uns an die Layers auf Photoshop und die Farbintensität seiner Werke lassen uns an eine Hintergrundbeleuchtung glauben, wie sie unsere Bildschirme haben… .
Auch wenn es uns in manchen Fällen schließlich gelingt unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit anzupassen, die Subtraktion nicht nur als solche zu erkennen, sondern auch zu sehen, die Illusion der geflossenen Muster langsam nachlässt und damit auch die digitalen Assoziationen schwächer werden, finden wir doch immer wieder zu unserer primären Wahrnehmung zurück, in der Muster fließen, Explosionen stillstehen und Wassertropfen auf der Fläche rund bleiben. Awes Bilder werden dabei zu Kippbildern, die wie Jastrows Hasenente als das eine oder andere erscheinen können, wobei jede der Deutungen eine ganze Reihe anderer Seherfahrungen nach sich zieht: „Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.“ (L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen). Während also ein besseres Verständnis des Vorher, Nachher, Davor, Dahinter, Hinzugefügt oder Weggenommen zu einer Ent-Täuschung führen kann, ist diese eine Bereicherung, denn beim nächsten Blick ist noch immer alles umgekehrt.
Zum Autor: Dr. Klaus Speidel ist Philosoph und Kunstkritiker. Er hat in München und Paris studiert und dort an der Sorbonne promoviert. 2015 wurde er mit dem Prix AICA France für Kunstkritik ausgezeichnet. Seit Oktober 2015 leitet er als Lise-Meitner Postdoc Fellow das Projekt „Zur experimentellen Narratologie des Bildes“ im Labor für empirische Bildwissenschaft an der Universität Wien.